Von unserem Redaktionsmitglied Yvonne Weirauch
SCHORNDORF.
Auf dem Tisch steht eine Tasse mit dem Aufdruck „Wie schreibt man … Latte Makiato – Latte Macchiato – Latte Machiato?“. Daneben liegt eine Stofftasche – da steht: „Was kommt in die Einkaufstasche? Spaghetti – Spageti – Spagetti.“ Auf eine spielerische Art und Weise können Menschen, die Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben, im „ABC-Café“ im Familienzentrum ihre Hemmschwelle überwinden und Übungshilfe erhalten. „Analphabet zu sein, ist für manche negativ behaftet“, sagt Vivien Schneider (Werkstudentin der Sozialen Arbeit, Mehrgenerationenhaus und Familienzentrum), die bisher das „ABC-Café“ geleitet hat. „Der Fachausdruck lautet eigentlich ‘gering literalisiert’“, fügt Schneider an, die im Oktober das Familienzentrum verlassen wird und das Projekt in die Hände von Luise Raitel (26) übergibt.Nicht gut schreiben oder lesen können: Eine ständige Belastung
Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung können 6,2 Millionen Menschen (12,1 Prozent) der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland nicht oder nur unzureichend lesen und schreiben. Bei weiteren 10,6 Millionen Menschen (20,5 Prozent) der Erwachsenen tritt fehlerhaftes Schreiben selbst bei gebräuchlichen Wörtern auf.
In Schorndorf sind es mehr als 3000 Menschen, die gar nicht lesen oder schreiben können oder eine Schwäche darin haben – das war der Stand 2022, als das Projekt „Lesen üben im Café“ im Familienzentrum gestartet ist. Mittlerweile wurde es in „ABC-Café“ umbenannt und auch die Zahl derer, die eine Schreib- und Leseschwäche haben nimmt zu. „Nicht gut schreiben, lesen oder rechnen können ist für Betroffene eine ständige Herausforderung und oft mit Scham besetzt“, sagt Simone Halle-Bosch (Sachgebietsleitung Familie und Prävention, Leitung Familienzentrum – Fachbereich Familie und Soziales). Im März dieses Jahres wurde das Familienzentrum sogar mit dem Alpha-Siegel ausgezeichnet – es kennzeichnet Organisationen, die sich für die Zielgruppe der Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten öffnen und engagieren. Barrieren abbauen und Analphabetismus enttabuisieren – darum geht es. Viele würden ihre Schwäche verstecken wollen, würden „Täuschungsstrategien“ entwickeln, so Halle-Bosch. Beispielsweise mit Ausreden wie „Ich habe meine Brille vergessen“, oder „Das ist mir zu klein geschrieben“. Es gehe darum, für Analphabetismus zu sensibilisieren. Aber wie erreicht man die Zielgruppe? „Wir können noch so viele Flyer drucken oder noch so viele Zeitungsberichte machen – das bringt nichts, wenn der Betroffene das nicht lesen kann“, sagt Vivien Schneider. Also gehe es nur über „Mundpropaganda“ oder Hinweise durch Zweite oder Dritte.Vincenzo gibt zu: „Ich habe einfach keinen Bock gehabt.“
Dass es das kostenlose Angebot im Familienzentrum gibt, wusste auch Vincenzo nicht. Der 33-Jährige hat gut zehn Jahre in der Werkstatt der Diakonie Stetten in Schorndorf gearbeitet, jetzt ist er in der Cafeteria des Krankenhauses Schorndorf beschäftigt. „Wenn mich mein Betreuer nicht auf dieses Angebot hingewiesen hätte, hätte ich davon nichts gewusst.“ Vincenzo geht offen mit seiner Schreib- und Leseschwäche um. Ein „ganz großes Problem“, so sagt er, sei es eigentlich nie gewesen.
Woran es lag, dass der 33-Jährige nicht richtig lesen und schreiben kann? „Ich habe einfach keinen Bock gehabt in der Schule. Ich war schon sehr, sehr faul“, erzählt er. Es habe keinesfalls an anderen gelegen – nicht an den Lehrern, nicht an der Schule, nicht an seinen Eltern: „Das lag nur an mir.“ Seine Eltern hätten oft zu ihm gesagt: „Mach doch mal die Augen auf, du kannst das.“ Aber das sei ihm alles egal gewesen. Irgendwie sei es auch „ohne Lesen und Schreiben gegangen“. Peinlich, ja, das sei es ihm schon manchmal gewesen, wenn er gegenüber fremden Menschen zugegeben hat, dass er nicht richtig lesen und schreiben kann. „Aber mein Umfeld wusste und weiß ja, wie es bei mir ist, deshalb war es nicht ganz so schlimm für mich, damit umzugehen“, sagt Vincenzo. Am meisten habe er selbst seine Schwäche bemerkt, wenn er etwas auf seinem Handy lesen wollte. Nachrichten zu versenden oder zu empfangen sei dagegen keine Schwierigkeit gewesen: „Es gibt ja Voice-Mail“, sagt der junge Mann und lacht.Arbeitgeber unterstützt Vincenzo
Was ihn letztlich dazu bewegt hat, das „ABC-Café“ aufzusuchen? Vivien Schneider erinnert sich an den 13. Mai, als Vincenzo zum erstem Mal ins „ABC-Café“ gekommen ist: „Er hat eigentlich eine lustige Geschichte erzählt, in der aber viel Ernsthaftigkeit steckt.“ Seine Eltern würden in Italien nämlich auf einer Anhöhe wohnen, die er nur mit dem Bus erreichen könnte. „Ich möchte aber unabhängig sein und den Roller-Führerschein machen – und dafür muss ich richtig lesen und schreiben können“, hatte Vincenzo gesagt. Dafür tue er jetzt alles: „Das ist eine große Chance für mich.“ Vor allem freue er sich sehr, dass ihn sein Arbeitgeber eine halbe Stunde vor Feierabend montags freistellt, damit er ins Familienzentrum gehen kann: „Das ist toll, dass mein Arbeitgeber mich da unterstützt.“ Bedauerlicherweise würden das Angebot (noch) wenig Betroffene wahrnehmen, so Vivien Schneider. Oft sei man nur zu zweit oder zu dritt. Woran das liegen mag? Vivien Schneider vermutet eine Kombination aus zwei Dingen: „Zum einen weiß man vielleicht nichts von solch einem Übungsangebot oder die Hemmschwelle ist zu groß.“ Dennoch wolle man weiter motivieren: „Es ist ganz wichtig zu sehen, dass man nicht alleine ist – das sieht man an Vincenzo. Er ist ein richtiger Mutmacher.“
Ebenfalls motiviert, sich um das Projekt zu kümmern, zeigt sich Luise Raitel, die seit gut sechs Wochen gemeinsam mit Vivien Schneider verschiedene Aufgaben betreut. Die studierte Grafik-Designerin arbeitet im Home-Office für eine Münchner Agentur und wollte sich ehrenamtlich in ihrer Heimatstadt Schorndorf engagieren. „Ich habe lange gesucht, bin aber dann im Familienzentrum fündig geworden“, sagt die 26-Jährige. Sie habe von einem Personalwechsel gehört und angefragt. Nun freue sie sich auf die neue Aufgabe – vor allem im „ABC-Café“.
Info
Für Erwachsene mit Problemen beim Lesen und Schreiben – zusammen wird das Lesen und Schreiben geübt; montags 15 bis 16.30 Uhr. Das Angebot im Familienzentrum, Karlstraße 19, ist kostenfrei. Kontakt über Telefonnummer 0 71 81/88 77 00 oder per Mail an familienzentrum@schorndorf.de.